Nellie Bly: Eine Biografie über eine furchtlose Frau (2024)

Nellie Bly hat den amerikanischen Journalismus des ausgehenden
19.Jahrhunderts geprägt wie kaum eine andere Figur. Es ist höchste Zeit, dass sie eine Biografie gewidmet bekommt – und doch hätte man ihr ein anderes Buch gewünscht.

Nellie Bly: Eine Biografie über eine furchtlose Frau (1)

Es klingt wie ein Märchen: Eine junge Frau verfasst einen Leserbrief, schickt ihn an die Zeitungsredaktion, wird als Talent erkannt und startet eine der grössten Journalistenkarrieren Amerikas. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, mag man nun denken, können die Dinge halt so laufen. Aber in diesem Fall waren es gerade die begrenzten Möglichkeiten, die am Anfang von allem standen.

Unter dem Titel «Die Sphäre der Frauen» publizierte der «Pittsburgh Dispatch» 1885 einen Artikel, der das Kochen und Bügeln als natürlich weibliche Tätigkeiten lobte. Vom Wahlrecht waren die Amerikanerinnen damals noch 35 Jahre entfernt, und schon ihr zögerliches Vordringen in die Berufswelt wurde in bürgerlichen Kreisen kritisch beäugt. Doch der konservativen Haltung erwuchs auch Widerstand – etliche Leser empörten sich über den Artikel im «Dispatch», und besonders scharfzüngig wurde der Text von einer Person zerlegt, die ihren Leserbrief mit «Lonely Orphan Girl» unterzeichnete.

Beeindruckt von dem Schreiben, lud die Redaktion das «einsame Waisenmädchen» per Annonce zu einem Besuch ein, eine gewisse Elizabeth Cochran sprach vor – und wurde kurz darauf als Mitarbeiterin eingestellt. Nicht mehr als «Waisenmädchen» signierte sie jetzt ihre Texte, ihr Pseudonym lautete nunmehr Nellie Bly, und diese Autorin sorgte sofort für Furore: zunächst mit einem Plädoyer für die Ehescheidung, danach mit Reportagen über das Leben lokaler Arbeiterinnen, das sich durch die rasante Industrialisierung in der Stahlstadt Pittsburgh stark veränderte.

Bly selber zog bald weiter. 1887 ging sie nach New York, wo sie bei der «World» anheuerte, der Zeitung, die Joseph Pulitzer gerade auf die sich wandelnde Gesellschaft ausrichtete. New York war innert kurzer Zeit enorm gewachsen, die zugewanderten Menschen wollten sowohl informiert als auch unterhalten werden, und entsprechend setzte Pulitzer im Konkurrenzkampf der neuen Massenmedien auf ein Blatt, das inhaltliche Qualität mit boulevardeskem Biss verband.

Schneller als Phileas Fogg

In diesem Umfeld landete Bly ihren ersten grossen Coup: Sie schleuste sich undercover, getarnt als Geisteskranke, in die berüchtigte Irrenanstalt für Frauen auf Blackwell’s Island ein und berichtete in zwei Reportagen über die dort herrschenden Missstände. Solche Enthüllungsgeschichten wurden in den nächsten Jahren zum Markenzeichen der jungen Frau: Indem sie sich als Betroffene ausgab, konnte sie die Vorgänge in Spitälern genauso untersuchen wie die Betrügereien von Heiratsagenturen oder das Elend der Prostituierten.

Ihre bis heute bekannteste Geschichte aber schrieb sie ausserhalb Amerikas: 1889 bestieg Bly einen Dampfer nach Southampton – mit dem Ziel, in weniger als 80 Tagen in New York zurück zu sein und die Welt also schneller als Jules Vernes Phileas Fogg zu umrunden. Dieses Projekt hielt die Zeitungsleser in Atem, die Marketingmaschinerie lief heiss, und als Bly nach 72 Tagen heimkehrte, war sie die landesweit bekannteste Frau – und sei es nur, weil ihr Gesicht nun ein Brettspiel zierte und ihr Name für Seifen oder Morgenmäntel warb.

In den 1890er Jahren verliess Bly die «World» mehrmals, nahm andere Engagements an, kehrte mit grossen Geschichten wieder zurück, arbeitete aber mit verminderter Energie und litt unter Depressionen. Die Heirat mit einem Industriellen gab ihrem Leben dann nochmals eine neue Wendung: Bly führte das Stahlunternehmen ihres Mannes und kümmerte sich als Managerin um alle Belange der Firma. Bloss die Finanzen überliess sie einem gesonderten Gremium; 1911 ging das Geschäft pleite, und Bly wandte sich ein letztes Mal dem Journalismus zu: Eher zufällig nach Europa gelangt, berichtete sie ab 1914 vier Jahre lang von der Ostfront des Ersten Weltkriegs. Später lebte Bly wieder in New York, starb aber schon 1922 an einer Lungenentzündung.

Dem Leben nachempfunden

Was für ein Leben! Und wie unfassbar, dass es kaum Bücher gibt darüber! Als «extraordinary women» wird Bly natürlich in etlichen Textsammlungen zu «unerschrockenen Frauen» erwähnt, und auch in Mädchenbüchern tritt die kämpferische Heldin zuweilen auf. Aber bloss eine einzige ernsthaft gearbeitete Biografie über sie ist 1995 auf Englisch erschienen. Auf Deutsch liegen Blys Reportagen über die Frauenanstalt und die Weltreise seit einigen Jahren in einer kommentierten Fassung vor (erschienen im Aviva-Verlag) – und neu ist nun die «Biografie einer furchtlosen Frau» des italienischen Journalisten Nicola Attadio auf dem Markt. Gerne würde man sagen, dass dieses Buch eine Lücke schliesse, doch tatsächlich haut es bloss in die leidige alte Kerbe und feiert eine starke Frau als phänomenale Ausnahmeerscheinung.

Die Quellen zu Bly sind spärlich, Tagebücher etwa gibt es keine, und der Autor macht sich nicht einmal die Mühe, die Zitate zu belegen, die er im Text verwendet. Stattdessen gibt er an, dass sein Buch dem Leben und den Artikeln seiner Protagonistin «nachempfunden» sei. Und so kullert dann eine einzelne Träne langsam über Blys Wange, als sie im Kindsalter dem Scheidungsprozess ihrer Mutter beiwohnt, und da sie erlebt hat, wie deren trunksüchtiger Gatte die ganze Familie ruinierte, sagt Klein Nellie trotzig: «Nie wieder», und beschliesst, für immer unabhängig von den Männern zu leben.

Man kann solche Stilisierungen mögen oder über sie die Nase rümpfen, problematisch sind sie nicht aus Geschmacksgründen, sondern weil sie ein Frauenbild schaffen, das man jetzt endlich einmal überwinden möchte. Bly war zweifelsfrei eine spezielle Person, begabt und willensstark – aber wer heute eine Biografie auf diese Eigenschaften zuschreibt und sie als weibliche Sensation verkauft, verhält sich nicht anders als die Männer des 19.Jahrhunderts.

Frauen füllen die Kassen

Mit Kalkül hat etwa Pulitzer Bly als Schreiberin aufgebaut: Eine Frau mit krassen Storys auf dem Titelblatt, das lockte Leser an. Die mutige Bly habe die «wichtigste Partie ihres Lebens» gespielt, als sie der «World» die Irrenhausreportage vorgeschlagen habe, weiss der fühlige Attadio. Doch seine dramatischen Sätze verkehren die Fakten: Die Quellen der «World» weisen darauf hin, dass es Pulitzer war, der Bly die Reportage antrug – ein kluger Zug, wie die Verkaufszahlen zeigten.

In den 1890er Jahren wurden folglich bald ganze Heere von Undercover-Journalistinnen beschäftigt; ihre Enthüllungen wurden zum Geschäftsmodell. Natürlich kann man die Waghalsigkeit und die wirklichkeitsnahe Methode dieser «girl stunt reporters» rühmen, eine ernsthafte Analyse müsste dann aber auch von dialektischen Effekten handeln. Viele dieser jungen Frauen machten eine Not zur Tugend, und die Zeitungen schlugen Kapital aus ihrer schlechten Bildung und dem amateurhaften Auftreten, das ihnen das Eintauchen in etliche eher unbürgerliche Milieus erst ermöglichte.

All diese Umstände schmälern mitnichten Nellie Blys Leistungen und machen sie als Person auch nicht weniger interessant. Im Gegenteil: Eingebettet in wirtschaftliche, politische und soziale Kontexte erlangen Frauenfiguren wie Bly erst richtig Konturen und werden zu mehr als märchenhaften Phänomenen. Zu einer solchen Darstellung freilich gelangt man nicht durchs Nachempfinden. Eher hilft da das nüchterne Denken.

Nicola Attadio: Nellie Bly. Die Biografie einer furchtlosen Frau und Undercover-Journalistin. Aus dem Italienischen von Walter Kögler. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2019. 214S., Fr. 26.90.

Zwei grosse Bly-Reportagen sind überdies hier greifbar:

Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie. Herausgegeben von Martin Wagner. Aviva-Verlag, Berlin 2018. 192S., Fr. 25.90.

Nellie Bly: Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben von Martin Wagner. Aviva-Verlag, Berlin 2019. 319S., Fr. 29.90.

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